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Ukraine-Krieg: Die blinden Flecken von Olaf Scholz – und Friedrich Merz

Mitte Oktober zitierte CDU-Parteichef Friedrich Merz im Bundestag ein Wort des französischen Philosophen Michel de Montaigne: »Angst ist die Mutter aller Grausamkeiten«. An Olaf Scholz gerichtet fuhr er fort : »Herr Bundeskanzler, es wird Zeit, dass Sie – es wird auch Zeit, dass wir das tun – Ihre Angst vor Putin überwinden, um die Grausamkeiten in der Ukraine jetzt wirklich gemeinsam zu beenden«.

Scholz, so der Vorwurf des CDU-Kanzlerkandidaten, sei mitnichten der Kanzler der Besonnenheit, der Eskalationsrisiken sorgfältig abwägt, sondern der Kanzler der Angst, der russischen Grausamkeiten freie Bahn gewährt. Ähnliche Anschuldigungen hatten bereits die CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter und Norbert Röttgen formuliert.

Die Weigerung des Kanzlers, der Ukraine weitreichende Waffensysteme zu liefern, beruhe rein auf »Selbstabschreckung«, so Kiesewetter. Er bezichtigte Scholz des »Appeasement gegenüber dem Aggressor«. Röttgen ist davon überzeugt, dass Scholz Angst vor einem Phantom hat: »Putin hat voll eskaliert, mit allen erdenklichen verbotenen und verbrecherischen Maßnahmen«.

Solche Äußerungen torpedieren jede vernünftige Debatte über Eskalationsrisiken. Wir sollten über unterschiedliche Risikoabwägungen streiten, ohne der anderen Seite Angst und Appeasement zu unterstellen. Auf der anderen Seite ist es falsch, Merz mit grobschlächtiger Polemik vorzuwerfen, mit seinem Ansatz zu Russlands Krieg »Russisch Roulette« mit Deutschlands Sicherheit zu spielen, wie es der Bundeskanzler in seiner Rede zum SPD-Wahlkampfauftakt am Samstag tat. Genauso wenig gehört es sich, risikofreudigere Stimmen pauschal als »Heißsporne« zu diskreditieren (Scholz) oder »Kaliberexperten« (Steinmeier).

Alle Seiten sollten anerkennen: Es gibt keine absolute Wahrheit in der Risikoabwägung. Wenn man, wie Scholz und Biden, als wichtigstes Ziel formuliert hat, dass es zu keinem Krieg Nato gegen Russland kommen darf, dann kann dies Zurückhaltung rechtfertigen. Dass Scholz sich nie vollmundig das Ziel »Sieg der Ukraine« zu eigen gemacht hat, mag auch mit der Sorge um Eskalation zu tun haben.

Diese Bedenken einfach als Selbstabschreckung vom Tisch zu wischen, ist unredlich. Was wir in der öffentlichen Auseinandersetzung machen können, ist, die eigene Sichtweise und die zugrundeliegenden Annahmen so plausibel wie möglich zu machen.

In diesem Kontext zu behaupten, dass Putin keine Eskalationsmöglichkeiten hat, ist grundfalsch. Dabei geht es um weit mehr als den Einsatz von Nuklearwaffen, der in der Tat nicht zur Debatte steht, solange die Lage auf dem Schlachtfeld für den Kreml nicht katastrophal ist. Aber Moskau hat gerade in den vergangenen Monaten bewiesen, dass es viele andere Optionen zur Eskalation hat.

Russland ist in der Lage, die Angriffe gegen zivile Infrastruktur in der Ukraine zu intensivieren und auch neue Waffensysteme zum Einsatz zu bringen (wie die beim Angriff auf Dnipro eingesetzte »Oreschnik«-Mittelstreckenrakete ). Und auch die Sabotage- und Terrorkampagnen in Europa könnten sich häufen.

Mittel, um Druck auf Europa auszuüben, findet Moskau auch bei den Huthis, die der Kreml schon länger unterstützt. Nachdem die Ukraine mit westlichen Raketen und Zielfindungsunterstützung das russische Marinehauptquartier auf der Krim angegriffen hat, könnte der Kreml nun die Huthis mit russischen Raketen und Zielunterstützung anweisen, westliche Kriegsschiffe anzugreifen.

Man braucht wenig Fantasie, um sich die Spirale der Eskalation auszumalen, sollte ein solcher Angriff ein westliches Kriegsschiff zerstören. Diese Risiken zu benennen, ist nicht Selbstabschreckung oder »typisch deutsche Eskalationshysterie«, die Roderich Kiesewetter zu diagnostizieren glaubt.

Wenn der ranghöchste deutsche Nato-General Christian Badia etwa sagt, die »Gefahr einer ungewollten Eskalation« sei »um ein Vielfaches höher« als während des Großteils des Kalten Krieges, dann tut er dies nicht als typisch deutscher Hysteriker. Er tut dies als Realist. Badia weist zu Recht auf die Gefahren sogenannter hybrider Kriegsführung, etwa mit Sabotageangriffen, hin. Für diese gibt es kein eingespieltes Drehbuch: »Zu viele Grauzonen und daraus entstehende Fehlkalkulation sind das größte Risiko«.

Gleichzeitig muss immer klar sein: Wie man Risiken bewertet und welche Schlüsse man in der Abwägung zieht, muss Teil einer offenen Diskussion sein. Olaf Scholz formulierte jüngst: »Es geht darum, die maximale Unterstützung für die Ukraine zu verbinden mit maximaler Besonnenheit«. Das klingt nach einer exakten Formel, ist jedoch bestenfalls Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung um die richtige Umsetzung.

Und dabei muss sich Scholz ebenfalls blinde Flecken vorhalten lassen. Nicht nur steht dem Risiko der Eskalation das Risiko des Nichthandelns entgegen. Um erfolgreich weitere Eskalation verhindern zu können, muss man manchmal selbst mit Eskalation drohen.

Am Samstag stellte Scholz in seiner Rede im Willy-Brandt-Haus zwar fest: »Seit fast drei Jahren eskaliert Putin – jeden Tag«. Er selbst aber verzichtet einseitig auf Druckmittel und adelt dies als Berechenbarkeit, indem er die Lieferung von Flugkörpern mit größerer Reichweite und deren Einsatz auch gegen Ziele auf russischem Boden ausschließt. Putin fasst dies als Freifahrtschein auf – und fährt mit seiner Eskalation munter fort.

Das Zögern des Bundeskanzlers ist zwar verständlich, schließlich kann man die beträchtlichen Risiken nicht einfach vom Tisch wischen. Genau deshalb hat sich auch US-Präsident Biden bislang sehr restriktiv verhalten in dieser Frage. Erst nach langem Zögern hat Biden jetzt den beschränkten Einsatz des Atacms-Systems in der russischen Region Kursk freigegeben.

Aus der Begründung der USA für ihr Verhalten aber sollte der Bundeskanzler lernen: Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte festgestellt, dass Russland nun nordkoreanische Truppen im Krieg einsetzt. Vor dieser Ausweitung des Krieges hatten die USA Russland gewarnt – und angekündigt, dass das Folgen haben würde. Die beschränkte Freigabe der Atacms-Raketen im Einsatzgebiet der nordkoreanischen Truppen war nur folgerichtig und könnte eine Ausweitung des Einsatzes von ausländischen Truppen verhindern.

Im Gegensatz dazu ist Scholz’ Vorgehen weit weniger besonnen. Seine Strategie, eine Taurus-Lieferung im deutschen Alleingang für alle Zeiten auszuschließen, ist vielmehr maximal selbst beschränkend. Damit beraubt man sich ohne Not eines Hebels, um die russische Eskalation zu kontrollieren. Und man steht als deutscher Bundeskanzler eher bedröppelt da, wenn Putin – kurz nach dem durchaus sinnvollen Telefonat von Scholz – die Angriffe auf die Ukraine noch einmal intensiviert.

Besser wäre es (wie auch von Merz vertreten), Putin gemeinsam mit Verbündeten die schrittweise Taurus-Lieferung und weitere Aufhebung von Reichweitenbeschränkungen für Schläge auf russisches Territorium in Aussicht zu stellen, falls Moskau Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine ausweitet.

Solche Drohungen sollten nicht mit dem Megafon als 24h-Show-Ultimatum inszeniert werden (wie von Merz vorgeschlagen), sondern in direkten Gesprächen dem Kreml übermittelt werden. Wenn Deutschland hier im Geleitzug mit verbündeten Atommächten handelt, dann verpufft auch Scholz’ Argument »Deutschland ist keine Nuklearmacht und deshalb können wir das nicht«.

Sicherlich hängt die Glaubwürdigkeit eines solchen Vorgehens mittelfristig davon ab, ob Donald Trump nach dem Amtsantritt im Januar mitspielt. Doch diese Strategie des schrittweisen Druckerhöhens könnte durchaus kompatibel sein mit den Zielen von Trump. Schließlich hat er angekündigt, dass er Putin drohen werde, die Unterstützung für die Ukraine stark hochzufahren, sollte dieser sich nicht kooperativ zeigen – mit Blick auf mögliche Verhandlungen.

Eines ist klar: Im Wahlkampf ist die billige Zuspitzung à la »Selbstabschreckung« und »Russisch Roulette« die »Mutter aller Grausamkeiten«. Schwarz-Weiß-Denken wird den schwierigen Abwägungen mitnichten gerecht, vor denen ein Bundeskanzler steht, egal ob er Scholz, Merz oder Habeck heißt. Höchste Zeit also, eine differenzierte Diskussion zu wagen.

This commentary was first published by Spiegel Online on December 2, 2024. A longer version, initially published by Internationale Politik, is available in English.

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